Demut & Dankbarkeit

Ich habe im Rheinland gelebt und in Garmisch-Partenkirchen, in Frankfurt, Paris und Oregon, aber nirgendwo so lange wie in Berlin.

Ich bin keine Berlinerin, aber ich liebe diese Stadt. Und doch schäme ich mich immermal wieder für das, was hier passiert. Wenn es Jahrzehnte dauert, einen Flughafen zu bauen zum Beispiel, oder wenn 20.000 Menschen gegen Corona-Auflagen demonstrieren, das Ende der Pandemie ausrufen und behaupten, die Regierung nutze das Virus, um uns alle unserer Freiheit zu berauben. Geht’s noch?

Mag sein, dass viele dieser Demonstrant*innen nur Lösungen (es gibt kein Virus, also brauchen wir keine Schutzmaßnahmen), oder Schuldige (Bill Gates und geheime Mächte) suchen oder einfach nur ihr Leben zurück haben wollen – ehrlich, es ist mir egal. Ob sie sich je überlegt haben, wer zu solchen Demonstrationen aufruft, wer die Wortführer sind und warum die das tun, was sie tun? Zwei Ideen hätte ich: sie verdienen damit ihren Lebensunterhalt oder sie suchen nach Anerkennung. Um Land und Leute geht es ihnen nicht.

Die gestrige Demonstration regt mich tatsächlich so auf, dass mir heute kaum danach ist, über Wolle zu schreiben. Dabei ist mein Schal aus mitternachtsblauer Regia Premium Alpaca fertig. Super schön und genauso schwer zu fotografieren.

Mir ist nach Demut und Dankbarkeit.

„Demut“, schrieb Albert Schweitzer, „ist die Fähigkeit, zu den kleinsten Dingen des Lebens empor zu sehen.“ Früher hat mich ein solcher Satz nicht berührt, mit zunehmenden Jahren schon. Nicht erst seit Corona, aber jetzt erst Recht. Das Alltägliche ist nicht mehr selbstverständlich, Gesundheit ist kostbar, ein Geschenk. So, wie die Menschen, die mich begleiten, und die mein Leben zu dem machen, was es ist.

Jeden Abend vor dem Einschlafen schreibe ich drei Dinge des vergangenen Tages auf, für die ich dankbar bin. Das lange Mittagessen mit dem Mann auf der Terrasse, der jubelnde Star im Kirschbaum, der Weg ins Büro ohne Stau, der schöne blaue Schal, die Tomaten im Garten.

Und ich merke, wie es mir hilft, mich stärker an das Gute als an das Schlechte zu erinnern; dass die Bereiche meines Gehirns, die das Negative speichern, mittlerweile weniger aktiv sind, als die, die Gutes und Schönes speichern.

Jeden Tag ein bißchen mehr.

In den 1980er Jahren begann der Epidemiologe David Snowdon 678 Nonnen der „School Sisters of Notre Dame“ in den USA zu untersuchen. In seiner mittlerweile berühmt gewordenen Nonnenstudie fanden er und sein Team u. a. heraus, dass je positiver die Schwestern waren, je mehr Gefühle wie Dankbarkeit, Hoffnung und Liebe ihre Lebensgeschichten bestimmten, um so wahrscheinlicher war es, dass sie lange leben würden.

Demut und Dankbarkeit lassen uns länger leben. Da könnte man doch ‚was draus machen, oder?

 

Das Sommerfest haben wir übrigens gefeiert. Mit ausreichend Platz, Händedesinfektion vor dem Gang zum (köstlichen!) Buffet, Abdeckung auf allen Salaten und hinreißenden Gastgeber*innen. Danke für alle Eure Kommentare in der vergangenen Woche! Und damit geht auch dieser Blogpost zu Andrea 💙.