Knitworthy

Seit ich über meine Unlust zu stricken geschrieben habe, ist gefühlt mehr denn je auf meinen Nadeln. Vier neue Projekte, von denen eigentlich keins auf meiner „möchte ich unbedingt stricken“-Liste stand … Aber so ist es halt manchmal. Und so stricke ich gerade primär für andere, für Menschen in meinem Umfeld. Zwei haben sich konkret etwas gewünscht, zwei andere wollte ich beschenken – wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Knitworthy sind drei der vier. Oder alle vier? Schwer zu sagen.

Knitworthy – strickwürdig wäre das wohl auf deutsch, nur sagt das niemand (auch wenn es viel leichter auszusprechen wäre). Die letzten drei Reihen an einem dieser Projekte habe ich nun darüber nachgedacht, was knitworthy für mich bedeutet, also für wen ich stricke und warum, um dann aber festzustellen, dass die Antwort gar nicht so einfach ist.

„Manchmal spricht Dein Herz durch Deine Hände“ stand auf der Karte, die ich meiner Schwester vor Jahren zu einem dreieckigen Glitzertuch gelegt habe. Daran glaube ich bis heute.

So auch, als ich diesen Herbst für eine Freundin Pulswärmer und Stirnband gestrickt habe. Anlaß war ihr Geburtstag und ich wußte, dass sie die schönen Herbstfarben im handgefärbten Strang (danke nochmal, Magda 💙) lieben würde. Und genau so war es. Die Pulswärmer waren ein Volltreffer, das Stirnband eher nicht so … Zumindest nicht auf den ersten Blick, aber wer weiß, vielleicht kommt das noch 🙃. Sie hat auf jeden Fall gesehen, dass und wieviel Mühe ich mir für sie gegeben habe und hat sich auch darüber gefreut. Denn sie weiß um den Wert von Handarbeit.

Letzteres ist für mich ein k.o.-Kriterium. Wer nicht versteht, wieviel Arbeit in Gestricktem steckt, für den oder die stricke ich nicht.

Obwohl … so ganz stimmt das nicht. Die blauen Socken aus REGIA 6-fädig zum Beispiel, die ich letztes Wochenende für den Onkel gestrickt habe – ich denke nicht, dass er weiß, wie lange ich daran gesessen habe. Muß er auch nicht. Mag sein, dass er sie einfach nur trägt, um warme Füße zu haben. Wenn sie ihm obendrein gefallen , weil sie dicht und weich und schön sind, umso besser. Gleichzeitig hoffe ich natürlich, dass all meine Gedanken, die Wünsche, dass er wieder gesund wird, noch in den Maschen stecken. In jeder einzelnen.

Ein zweites Paar Socken stricke ich in einem Rot, das Lipstick heißt. Ein kleiner Rest REGIA Soft Glitter hat noch genau für die Bündchen gereicht. Das Paar wird so schön, weil die Wolle – REGIA Premium Pure – so schön ist, nur ob ich sie verschenke, habe ich nun doch noch nicht entschieden. Die, die sie eigentlich bekommen soll, weil sie in einem Nebensatz mal gesagt hat, dass sie sich sowas wünscht, kenne ich noch nicht lange. Ob sie knitworthy ist, kann ich deshalb noch nicht einschätzen und so werde ich wohl noch eine Weile darüber nachdenken, während ich den zweiten Fuß stricke. Ich habe ja noch den November, um das zu entscheiden.

Unglaublich gerne mag ich es auch, wenn Strickwünsche und Menschen, die knitworthy sind, zusammenkommen. So wie die Bitte der Mutter eines ziemlich kleinen Menschen, die mich vergangene Woche gefragt hat, ob ich noch einen kleinen Janker für’s Kind stricken könnte. Klar kann ich. Sehr gerne sogar! Kleine Kinder in handgestrickt sind so niedlich. Ich mag das sehr und biete dann auch gerne an, Gestricktes zurückzunehmen und aufzuarbeiten, ehe das nächste Kind Abenteuer darin erlebt.

Die Wolle ist weich und trotzdem robust. Der melierte Faden läßt kraus rechts nochmal plastischer aussehen und mit Knopflöchern auf beiden Seiten muss ich die Knöpfe nur durchstecken. Diese kleine Jacke macht mich richtig glücklich gerade. Und später dann Mutter und Kind. Triple Glück sozusagen.

Ich glaube, die stricke ich jetzt als erstes fertig, ehe dann die langen Ärmel des Weihnachtspullover wieder an die Reihe kommen. Den gibt es schließlich auch noch und der wird definitiv für jemanden knitworthy!

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Nichts als Grau auf den Nadeln

Absicht war es keine und doch ist derzeit alles Grau auf meinen Nadeln. Und nicht nur das, sogar das Garn ist immer das Gleiche: REGIA Premium Pure. Aufgefallen ist mir das tatsächlich eben erst, als ich angefangen habe, mich mit diesem Blogpost zu beschäftigen.

Da sind zum einen die dunkelgrauen LastMinute Handstulpen. Einfarbig dunkelgrau und mit kleinem Rippenmuster (3re/1li), dürfen sie mit, wenn ich das Haus verlasse. Der kleine Projektbeutel passt in jede Tasche. Sechs Paar habe ich schon gestrickt und verschenkt. Dieses ist das siebte. Ich mag die Anleitung, die Linie, die über den Handballen verläuft, den Sitz, einfach alles. Mal sehen, ob und wer sie irgendwann bekommt.

Dann liegt hier unverändert der Reset Intarsia Cardigan … Immerhin habe ich mittlerweile Vorder- und Rückenteil geschafft und dabei das eine oder andere schöne Detail entdeckt. Den iCord-Abschluß zum Beispiel.

Außerdem ist der Weihnachtspullover gewachsen. Auch da ist jetzt der Körperteil – 45 cm ab Achsel, unendliche Zentimeter in hellgrau – geschafft. Wahrscheinlich um mich vor dem Stricken der Ärmel noch eine Weile zu drücken, habe ich dann den Kragen fertig machen wollen (provisional cast-on), um bei einer ersten Anprobe festzustellen, dass alles oberhalb der Rundpasse überhaupt nicht saß. Zu eng, zu hoch, ging gar nicht. Also zumindest nicht für Menschen mit Schultern. Also habe ich ein Scoubidou als lifeline eingezogen, um danach alles oberhalb erst abzutrennen und dann neu zu stricken. Das Verrückte daran: man sieht es nicht. Auch wenn die Maschen nun in die andere Richtung (also von unten nach oben) verlaufen, im Gegensatz zum top-down gestrickten Pullover.

Leider hatte ich nicht die Nerven, mein Tun in Bildern festzuhalten. Rückwirkend würde mir das gefallen. Im Moment selbst wollte ich einfach nur, dass alles wieder heile wird und besser sitzt als vorher. So ganz überzeugt war ich letztlich dann doch nicht, aber das, was an Bedenken noch da war, hat Andrea zerstreut. Sie sagt, alles ist gut. Ich bin entschlossen, ihr zu glauben.

Fehlen also nur noch (nur noch …) vier Ärmel. Zwei an der Jacke, zwei am Pullover. Die an der Jacke werden immerhin himbeerrot, die am Pullover haben am Oberarm noch ein kleines bißchen FairIsle. Schöne Abwechslung zum bisherigen Grau, aber dennoch sind vier Ärmel eben doch vier Ärmel.

Ich werde lange dafür brauchen. Sehr lange. Denn außer fertig werden zu wollen und dem wirklich schönen Garn motiviert mich da leider gar nichts zur Zeit.

 

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Der Schwimmer oder ‚Wie ich fast den Blognamen geändert hätte‘

Es ist lange her, dass ich den Schwimmer gehäkelt habe. 14 Jahre? Eher mehr. Anfänglich war sein Leben aufregend, später wahrscheinlich ziemlich langweilig. Da lag er in einer Plastikkiste mit weiteren Mitgliedern der Häkelmonster-Familie. Schwimmer im Ruhestand sozusagen. Ich erinnere nicht, wann ich ihn zuletzt gesehen hatte.

Bis Anfang Oktober. Da ist er dann – für mich tatsächlich überraschend – mit Schwimm-Ring und Mütze zu einem kleinen Mädchen gezogen, das an diesem Tag zwei Jahre alt wurde. Der (nicht mehr) Teenager hat ihr den Schwimmer zum Geburtstag geschenkt.

Drei Fotos, eine schöne Papiertüte und weg war er.

So viel geht mir durch den Kopf, wenn ich diese Bilder jetzt ansehe. Ich denke an die Zeit, in der ich gar nicht so schnell häkeln konnte, wie der damals noch kleine Junge gehäkelte Wesen haben wollte. Er liebte sie und packte allabendlich einen nach dem anderen in sein Bett. Da lagen sie dann nebeneinander und jedem einzelnen wünschte er eine gute Nacht.

Der Einäugige und Boubou, Brigitte oder das Huhn, der Schwimmer – sie alle entstanden aus einer Idee und alle ohne Anleitung. Zusammen gaben sie meinem Blog und später den Accounts bei Instagram und Pinterest, Twitter, Faacebook und Ravelry ihren Namen: Häkelmonster.

Ob ich ohne sie je angefangen hätte zu bloggen?

Irgendwann zogen sie dann vom Kinderzimmer in die Plastikkiste und nun ist also der Schwimmer der erste, der wirklich ausgezogen ist. Zu einer Zeit, in der ich zunehmend überlege, mich von meinem eigenen, also dem virtuellen Häkelmonster zu verabschieden.

Denn natürlich weiß ich längst, dass der Name nicht mehr passt. Nicht zu mir und nicht zu dem, was ich tue oder worüber ich schreibe.

Und doch fällt es mir schwer, eine Alternative zu finden. So viele Namen waren schon in der Endauswahl. Bei einem war die Website schon vergeben, der nächste auf Instagram nicht mehr verfügbar, einer auf englisch, was ich nach längerem Überlegen doch nicht so gut fand – kurz: es ist sauschwer, einen Ersatz zu finden, einen neuen Namen, der nicht nur passt, sondern auch noch überall verfügbar ist.

Gleichzeitig ist es auch total schön, im „richtigen Leben“ als Häkelmonster erkannt zu werden („Ach, Du bist das!“). Nichts muss buchstabiert werden, es gibt weder Zahlen, noch Sonderzeichen, Häkelmonster ist eingängig und unverwechselbar.

Nur häkel ich halt keine Monster mehr …

So, wie sich der Schwimmer vergangene Woche (im übertragenen Sinne) ins kalte Wasser gestürzt hat, mache ich das deshalb jetzt auch. Die Idee eines neuen Namens und die passende Website gibt es längst. Ich muß nur noch springen! (Und lande dann hoffentlich so warm und schön, wie der Schwimmer in seinem neuen Zuhause).

Jetzt käme eigentlich die zweite Hälfte meines Blogposts und auch die war gestern Abend schon geschrieben. Also der Teil, in dem ich den neuen Blognamen vorstelle, schreibe, wie ich darauf gekommen bin und was mich daran so begeistert. Aber dann habe ich nochmal einiges über Markennamen gelesen, mich in Domainendungen verloren und viel zu spät geschlafen.

Heute war ich fast den ganzen Tag im Garten, habe Lasagne mit Süßkartoffeln gemacht und schließlich – während wir warten, dass das Essen fertig wird – den Text gelöscht. Ich muß da doch nochmal drüber nachdenken.

Denn auch wenn der neue Name toll ist (finde ich immer noch), hat er doch keinen Bezug zu dem, was ich hier mache, also ‚Schreiben über das Leben und die Wolle‘ und ist deshalb nur so semi-toll oder sagen wir nicht in jeder Hinsicht toll. Nur toll als Wort.

Bloggen möchte ich dennoch und so bleibt es für den Moment bei einem Text über den Schwimmer, beim bisherigen Namen und bißchen wirrem Rest. Seht es mir nach.

 

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Pulswärmer mit Blumen

Schon verrückt, was man was ich alles mache, um nicht das tun zu müssen, was eigentlich dran ist! An einem Tag im August habe ich deshalb – wissend, dass auch das mühsam sein würde – statt Schreibtisch lieber angefangen meine Wolle zu sortieren und aufzuräumen.

Das heißt, ich habe alles ins Wohnzimmer getragen, jedes Knäuel ausgepackt (aus der Plastikkiste und dann aus der Plastiktüte), hingelegt, fotografiert (sofern neu), Bild, Gewicht und Angaben der Banderole bei Ravelry eingegeben und schließlich alles wieder zurück geräumt. Knäuel … für Knäuel … für Knäuel.

Eine Kiste mit Sockenwolle, eine andere mit Rowan-Garnen. Eine mit allem, wovon ich viel habe und eine andere mit Baumwolle. Und so weiter. Die letzte schließlich mit allem, was übrig war. Nachdem ich zwischendurch aber doch immermal an den Schreibtisch mußte, lag hier drei Tage lang überall Wolle. Wirklich überall. Hat nicht Familienmitglieder gefreut … 😬.

Irgendwann war dennoch alles ordentlich  – nur auf dem Wohnzimmertisch lag noch ein einziges Knäuel Drops Karisma in der Farbe von Haferflocken.

Ne, dachte ich, das räume ich jetzt nicht mehr auf. Das nicht. Kennt Ihr das, wenn so ein einziges Knäuel einem dann den Rest gibt? Liegenlassen war dennochkeine Alternative (hat der Mann gesagt), also habe ich kurzerhand Pulswärmer daraus gestrickt.

Ohne Anleitung und mit 3,75er Nadeln.

Rippenmuster und dann Zunahmen für den glatt rechts gestrickten Daumen in jeder dritten Reihe. Ein Knäuel = ein Paar. 50 gr. haben ganz genau gereicht. Noch am gleichen Tag waren sie fertig und so, wie vorher das Knäuel rumlag, lagen dann Pulswärmer rum 🙃.

Zum Glück hat Sarah mich in der Vergangenheit nicht nur immer mal wieder motiviert zu sticken, sondern mir auch gleich das richtige Buch dagelassen: Nach kaputt kommt schöner. Wer Sarah nicht kennt: in ihrem YouTube Kanal, Ein Koffer Voll Wolle zeigt und erklärt sie Strickanleitungen, aber eben auch sehr, sehr viel zum Thema Reparieren. Sie stopft nahezu unsichtbar oder wunderschön sichtbar, hat sehr coole Ideen und erklärt wirklich toll. Ein Besuch in ihrem virtuellen „Strickzimmer“ lohnt sich deshalb unbedingt.

Nicht zuletzt dank Sarah habe ich mal wieder die eigenwillige Schönheit des Unvollkommenen für mich entdeckt, und gleichzeitig viel über das Stopfen gelernt, wie man richtig Knöpfe annäht, wie Löcher eingehäkelt werden oder Längen angestrickt, wie man mit Flicken flickt, einiges über Slow Fashion und – tadaa! – ganz einfache Zierstiche.

Und als dann das Buch so neben den  Pulswärmern lag, dachte ich, die sind zwar nicht kaputt, aber ich könnte doch … und dann habe ich!

Die Zierstiche auszuprobieren war zu verführerisch.

Das Ergebnis begeistert mich! Vier kleine Blüten. Lavendel, eine Kornblume, Löwenzahn und ein rotes Blümchen. Je zwei auf einem Daumen. Aufgestickt im Margueritenstich mit Resten von Sockenwolle. Das war tatsächlich schnell gemacht und ist – für meine Augen – genau das, was Wolle in der Farbe von Haferflocken braucht.

Nun denke ich darüber nach, was ich noch erst stricken und dann besticken könnte. Nochmal Pulswärmer vielleicht, oder die Passe eines Pullovers, oder eine Mütze – am liebsten alles. Und sofort!

Aber vielleicht zuerst Socken. Schließlich ist mittlerweile SOCKtober. Nur muss erst der Cardigan Teststrick fertig werden – auch wenn ich Andrea wahrscheinlich nicht mehr einhole.

 

 

 

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Buchrezension: ‚Rausch und Klarheit‘ von Mia Gatow

Im Januar 2024 habe ich zum ersten Mal einen Text von Mia Gatow gelesen. Einen Artikel im Berliner Tagesspiegel zu Alkohol und Alkoholsucht. Den Titel erinnere ich nicht, aber umso mehr, wie sehr sie mich mit dem was sie schreibt und wie sie es schreibt, beeindruckt, begeistert, neudeutsch: geflasht hat. Seither folge ich ihr auf Instagram.

Als sie dort im Juli 2024 die Premiere ihres Buchs ‚Rausch und Klarheit‚ ankündigte, habe ich sofort (also wirklich sofort) zwei Tickets gekauft. Einfach, um Tickets zu haben. Ich weiß noch, dass ich dachte „23. September … eigentlich verrückt. Das ist noch so lange hin.“ Aber weil sich das, was früher endlose Sommerferien waren, heute eher wie ein langes Wochenende anfühlt, war „noch lange hin“ deutlich schneller vorbei als gedacht.

Vergangenen Montag waren wir also im Pfefferberg-Theater. Der Mann kam mit. (Nicht wegen des Themas, wie er mir versicherte, sondern wegen des Events. Denn wir waren tatsächlich länger nicht gemeinsam abends unterwegs. Aber – Spoiler – soviel vorab: es bleib nicht dabei. Er möchte das Buch jetzt auch lesen).

Der Saal im kleinen Theater war erwartungsgemäß ausgebucht, die Plätze in der Mitte von Reihe 5 waren perfekt (wenn man davon absieht, dass der Mann Probleme hatte, die langen Beine in der schmalen Stuhlreihe unterzubringen) und im Publikum saßen, ebenfalls wie erwartet, deutlich mehr Frauen als Männer, die meisten um die 30. Vielleicht auch jünger. Keine von ihnen schien dabei Klischees zu erfüllen, die landläufig mit dem Thema des Buches in Verbindung gebracht werden. Sie wirkten ausnahmslos erwartungsfroh, guter Dinge und bester Laune.

Aber zurück zur Lesung: Mia Gatow im Gespräch mit Daniel Schreiber. Autor:innen unter sich. Sie anfänglich nervös, er fing das auf, indem er ein bißchen mehr sprach, ein wenig mehr erklärte. Schon nach der ersten Lesung entspannte sie jedoch sichtlich und was immer ich mir von diesem Abend erwartet hatte, wurde in Folge weit übertroffen.

Wäre Mia Gatow nicht so jung, würde ich sagen, sie ist weise. So passt das irgendwie nicht. Und doch ist sie es. Denn das, was sie denkt und sagt, ist positiv und abgeklärt und auf eine ganz eigenwillige Art unglaublich schön. Meint man nicht, in Anbetracht des Themas – ist aber so.

Worum geht es also? ‚Rausch und Klarheit‘ ist ein autobiografisches Buch, in dem Mia Gatow ihre Erfahrungen mit Alkohol im familiären, aber auch im gesellschaftlichen Kontext beschreibt. Als jüngstes Kind einer Familie mit Alkoholproblemen schildert sie ihre Kindheit, die vom alkoholbedingten Tod ihrer Großmutter und ihres Vaters geprägt war. Spätestens in ihrer Zeit als Barkeeperin in Berlin wurde Alkoholkonsum dann zu einem festen Bestandteil ihres eigenen Lebens.

Im Buch beschreibt sie ihre Entwicklung von der allmählichen Erkenntnis ihrer eigenen Sucht bis hin zu ihrem Besuch bei den Anonymen Alkoholikern und der Aussicht auf ein neues Leben, in dem „Nüchternheit nicht ein Verzicht ist, sondern ein Gewinn.“ Neben ihrer persönlichen Suchtgeschichte analysiert sie dabei auch gesellschaftliche Strukturen, die samt und sonders Alkoholkonsum normalisieren.

„Sei doch gemütlich, trink doch mal was“ – diese unzulässige Verbindung von Worten, die nicht zusammen gehören, wie oft habe ich das schon gehört! Und die meisten von Euch werden mir zustimmen, dass es bis heute nur wenig akzeptierte Gründe gibt, Alkohol abzulehnen. „Ich bin schwanger“ ist einer, „ich muss noch fahren“ der andere. Alles andere hat in der Regel Diskussionen zur Folge. („Ach komm schon, nur eins. Sei doch nicht so“). Das Feierabendbier, das Treffen auf ein Glas Wein, oder Sekt, um zu feiern, Schnaps, um Kummer zu ertränken – Alkohol ist rund um die Uhr verfügbar, ist Werbepartner von Sportvereinen und wird von schönen, jungen Menschen auf Plakaten beworben. Alles total normal. Weil Alkohol tief verwurzelt ist (nicht nur) in unserer Kultur.

Und doch kennt jede:r von uns mindestens einen Menschen, der oder die durch den Konsum von Alkohol krank geworden ist oder abhängig oder beides. Denn Alkohol ist ein Zellgift. Jeder Schluck ist in so vieler Hinsicht schädlich: Krebs, Depressionen, Demenz. Keine andere Droge verursacht so viele Unfälle, so viel Gewalt, zerstört so viele Leben, Freundschaften und Familien.

„Ich möchte dieses Buch allen Leuten schenken, die ich kenne. Man liest es förmlich mit angehaltenem Atem. Es ist wie eine grandiose Ballade – über Abhängigkeit, Sehnsucht und Liebe und über das Leben, das so viel echter sein kann als gedacht“, hat Daniel Schreiber gesagt und er hat Recht.

Alle, die sich nicht sicher sind, ob das, was sie trinken noch okay ist, sollten ‚Rausch und Klarheit‘ lesen. Alle, die denken, dass nur die Anderen süchtig werden, weil das Nicht-süchtig-werden eine Frage von Disziplin ist, sowieso. Jugendliche, die glauben, das Trinken cool ist, auch. Mir hat es geholfen, Menschen zu verstehen, die süchtig wurden und gleichzeitig bin ich mir ziemlich sicher, dass eben die genau dieses Buch brauchen, um besser zurück in ein helles, nüchternes Leben zu finden.

Genug geschwärmt, nur eins noch: Wer mehr zum Buch wissen möchte, dem sei der Podcast SodaClub von Mia Gatow und Mika Döring wärmstens ans Herz gelegt. Jeden Sonntag erscheint eine neue Folge über ‚Alkohol, Liebe, Sucht und Unabhängigkeit‘. Folge 197 hat ‚Rausch und Klarheit‘ zum Thema. Außerdem findest Du eine Leseprobe auf der website des Verlags.

Wer nun das Buch kaufen möchte, sollte vielleicht vorher im Buchladen der Wahl nachfragen, ob es vorrätig ist … Weil ich mir (natürlich) wünsche, dass es zwischenzeitlich überall ausverkauft ist, aber auch aus eigener (eher leidvoller) Erfahrung: ich habe es bei Hugendubel gesucht (nicht mein Lieblings-Buchladen, aber in der Nähe und ich kam dran vorbei): erst bei den Bestsellern, da war es nicht. Dann bei Gesellschaftsliteratur, da war es auch nicht. Als ich es bei Lebensratgebern nicht gefunden habe, war ich tatsächlich fast erleichtert und habe dann doch an der Kasse nachgefragt.

Was soll ich sagen? Das einzig vorrätige Exemplar war unter ‚Gesundheit‘ einsortiert. Zwischen ‚Nahrung fürs Leben‘ und ‚Masterplan Gesundheit‘. In so vieler Hinsicht so falsch – ich konnte es dort nicht lassen. Es ist jetzt meins.

Irgendwie Fügung, nachdem Büchertisch und ausverkauftes Theater am vergangenen Montag nicht zusammenpassen wollten. Fünfzig Bücher mehr wären da lässig auch verkauft worden, zumal Mia Gatow jedes einzelne gerne signiert hat. Aber darauf waren Verlag und Thalia offensichtlich nicht vorbereitet. Nur mal so gefragt: Warum nicht??

Vielleicht gucke ich jetzt einfach, wo weitere Lesungen stattfinden und fahre Mia Gatow mit meinem Buch hinterher. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr mag ich den Gedanken.

💙

Ein Blogpost, ganz ohne Wolle. Obwohl … Bei der Lesung saß links neben mir saß eine junge Frau. Wir haben uns kurz gegrüßt, als sie sich setzte. Das war’s. Ich unterhielt mich danach wieder mit dem Mann, sie sprach nach links. Es war noch Zeit bis zum Beginn der Lesung. Und irgendwann sagte sie (nicht zu mir, aber so, dass ich es hören konnte) „Stricken ist schon echt krass. Kann ich leider nicht.“ Kontext? Zusammenhang? Keine Ahnung. Aber rückblickend ist das genau so ein Moment, in dem ich gerne geistesgegenwärtig gewesen wäre. War ich aber nicht. Aber wenn Du das jetzt liest – ich bringe es Dir gerne bei 😉

Rausch und Klarheit von Mia Gatow, erschienen am 18. September 2024 bei GOLDMANN, 304 Seiten ISBN: 978-3-442-31753-0

Transparenzhinweis: Das besprochene Buch habe ich gekauft. Die in dieser Rezension geäußerten Ansichten und Bewertungen spiegeln ausschließlich meine persönliche Meinung wider und wurden in keiner Weise von Verlag oder Autorin beeinflusst oder vorgegeben.

verlinkt zum Samstagsplausch von Andrea