Buchrezension: ‚Rausch und Klarheit‘ von Mia Gatow

Im Januar 2024 habe ich zum ersten Mal einen Text von Mia Gatow gelesen. Einen Artikel im Berliner Tagesspiegel zu Alkohol und Alkoholsucht. Den Titel erinnere ich nicht, aber umso mehr, wie sehr sie mich mit dem was sie schreibt und wie sie es schreibt, beeindruckt, begeistert, neudeutsch: geflasht hat. Seither folge ich ihr auf Instagram.

Als sie dort im Juli 2024 die Premiere ihres Buchs ‚Rausch und Klarheit‚ ankündigte, habe ich sofort (also wirklich sofort) zwei Tickets gekauft. Einfach, um Tickets zu haben. Ich weiß noch, dass ich dachte „23. September … eigentlich verrückt. Das ist noch so lange hin.“ Aber weil sich das, was früher endlose Sommerferien waren, heute eher wie ein langes Wochenende anfühlt, war „noch lange hin“ deutlich schneller vorbei als gedacht.

Vergangenen Montag waren wir also im Pfefferberg-Theater. Der Mann kam mit. (Nicht wegen des Themas, wie er mir versicherte, sondern wegen des Events. Denn wir waren tatsächlich länger nicht gemeinsam abends unterwegs. Aber – Spoiler – soviel vorab: es bleib nicht dabei. Er möchte das Buch jetzt auch lesen).

Der Saal im kleinen Theater war erwartungsgemäß ausgebucht, die Plätze in der Mitte von Reihe 5 waren perfekt (wenn man davon absieht, dass der Mann Probleme hatte, die langen Beine in der schmalen Stuhlreihe unterzubringen) und im Publikum saßen, ebenfalls wie erwartet, deutlich mehr Frauen als Männer, die meisten um die 30. Vielleicht auch jünger. Keine von ihnen schien dabei Klischees zu erfüllen, die landläufig mit dem Thema des Buches in Verbindung gebracht werden. Sie wirkten ausnahmslos erwartungsfroh, guter Dinge und bester Laune.

Aber zurück zur Lesung: Mia Gatow im Gespräch mit Daniel Schreiber. Autor:innen unter sich. Sie anfänglich nervös, er fing das auf, indem er ein bißchen mehr sprach, ein wenig mehr erklärte. Schon nach der ersten Lesung entspannte sie jedoch sichtlich und was immer ich mir von diesem Abend erwartet hatte, wurde in Folge weit übertroffen.

Wäre Mia Gatow nicht so jung, würde ich sagen, sie ist weise. So passt das irgendwie nicht. Und doch ist sie es. Denn das, was sie denkt und sagt, ist positiv und abgeklärt und auf eine ganz eigenwillige Art unglaublich schön. Meint man nicht, in Anbetracht des Themas – ist aber so.

Worum geht es also? ‚Rausch und Klarheit‘ ist ein autobiografisches Buch, in dem Mia Gatow ihre Erfahrungen mit Alkohol im familiären, aber auch im gesellschaftlichen Kontext beschreibt. Als jüngstes Kind einer Familie mit Alkoholproblemen schildert sie ihre Kindheit, die vom alkoholbedingten Tod ihrer Großmutter und ihres Vaters geprägt war. Spätestens in ihrer Zeit als Barkeeperin in Berlin wurde Alkoholkonsum dann zu einem festen Bestandteil ihres eigenen Lebens.

Im Buch beschreibt sie ihre Entwicklung von der allmählichen Erkenntnis ihrer eigenen Sucht bis hin zu ihrem Besuch bei den Anonymen Alkoholikern und der Aussicht auf ein neues Leben, in dem „Nüchternheit nicht ein Verzicht ist, sondern ein Gewinn.“ Neben ihrer persönlichen Suchtgeschichte analysiert sie dabei auch gesellschaftliche Strukturen, die samt und sonders Alkoholkonsum normalisieren.

„Sei doch gemütlich, trink doch mal was“ – diese unzulässige Verbindung von Worten, die nicht zusammen gehören, wie oft habe ich das schon gehört! Und die meisten von Euch werden mir zustimmen, dass es bis heute nur wenig akzeptierte Gründe gibt, Alkohol abzulehnen. „Ich bin schwanger“ ist einer, „ich muss noch fahren“ der andere. Alles andere hat in der Regel Diskussionen zur Folge. („Ach komm schon, nur eins. Sei doch nicht so“). Das Feierabendbier, das Treffen auf ein Glas Wein, oder Sekt, um zu feiern, Schnaps, um Kummer zu ertränken – Alkohol ist rund um die Uhr verfügbar, ist Werbepartner von Sportvereinen und wird von schönen, jungen Menschen auf Plakaten beworben. Alles total normal. Weil Alkohol tief verwurzelt ist (nicht nur) in unserer Kultur.

Und doch kennt jede:r von uns mindestens einen Menschen, der oder die durch den Konsum von Alkohol krank geworden ist oder abhängig oder beides. Denn Alkohol ist ein Zellgift. Jeder Schluck ist in so vieler Hinsicht schädlich: Krebs, Depressionen, Demenz. Keine andere Droge verursacht so viele Unfälle, so viel Gewalt, zerstört so viele Leben, Freundschaften und Familien.

„Ich möchte dieses Buch allen Leuten schenken, die ich kenne. Man liest es förmlich mit angehaltenem Atem. Es ist wie eine grandiose Ballade – über Abhängigkeit, Sehnsucht und Liebe und über das Leben, das so viel echter sein kann als gedacht“, hat Daniel Schreiber gesagt und er hat Recht.

Alle, die sich nicht sicher sind, ob das, was sie trinken noch okay ist, sollten ‚Rausch und Klarheit‘ lesen. Alle, die denken, dass nur die Anderen süchtig werden, weil das Nicht-süchtig-werden eine Frage von Disziplin ist, sowieso. Jugendliche, die glauben, das Trinken cool ist, auch. Mir hat es geholfen, Menschen zu verstehen, die süchtig wurden und gleichzeitig bin ich mir ziemlich sicher, dass eben die genau dieses Buch brauchen, um besser zurück in ein helles, nüchternes Leben zu finden.

Genug geschwärmt, nur eins noch: Wer mehr zum Buch wissen möchte, dem sei der Podcast SodaClub von Mia Gatow und Mika Döring wärmstens ans Herz gelegt. Jeden Sonntag erscheint eine neue Folge über ‚Alkohol, Liebe, Sucht und Unabhängigkeit‘. Folge 197 hat ‚Rausch und Klarheit‘ zum Thema. Außerdem findest Du eine Leseprobe auf der website des Verlags.

Wer nun das Buch kaufen möchte, sollte vielleicht vorher im Buchladen der Wahl nachfragen, ob es vorrätig ist … Weil ich mir (natürlich) wünsche, dass es zwischenzeitlich überall ausverkauft ist, aber auch aus eigener (eher leidvoller) Erfahrung: ich habe es bei Hugendubel gesucht (nicht mein Lieblings-Buchladen, aber in der Nähe und ich kam dran vorbei): erst bei den Bestsellern, da war es nicht. Dann bei Gesellschaftsliteratur, da war es auch nicht. Als ich es bei Lebensratgebern nicht gefunden habe, war ich tatsächlich fast erleichtert und habe dann doch an der Kasse nachgefragt.

Was soll ich sagen? Das einzig vorrätige Exemplar war unter ‚Gesundheit‘ einsortiert. Zwischen ‚Nahrung fürs Leben‘ und ‚Masterplan Gesundheit‘. In so vieler Hinsicht so falsch – ich konnte es dort nicht lassen. Es ist jetzt meins.

Irgendwie Fügung, nachdem Büchertisch und ausverkauftes Theater am vergangenen Montag nicht zusammenpassen wollten. Fünfzig Bücher mehr wären da lässig auch verkauft worden, zumal Mia Gatow jedes einzelne gerne signiert hat. Aber darauf waren Verlag und Thalia offensichtlich nicht vorbereitet. Nur mal so gefragt: Warum nicht??

Vielleicht gucke ich jetzt einfach, wo weitere Lesungen stattfinden und fahre Mia Gatow mit meinem Buch hinterher. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr mag ich den Gedanken.

💙

Ein Blogpost, ganz ohne Wolle. Obwohl … Bei der Lesung saß links neben mir saß eine junge Frau. Wir haben uns kurz gegrüßt, als sie sich setzte. Das war’s. Ich unterhielt mich danach wieder mit dem Mann, sie sprach nach links. Es war noch Zeit bis zum Beginn der Lesung. Und irgendwann sagte sie (nicht zu mir, aber so, dass ich es hören konnte) „Stricken ist schon echt krass. Kann ich leider nicht.“ Kontext? Zusammenhang? Keine Ahnung. Aber rückblickend ist das genau so ein Moment, in dem ich gerne geistesgegenwärtig gewesen wäre. War ich aber nicht. Aber wenn Du das jetzt liest – ich bringe es Dir gerne bei 😉

Rausch und Klarheit von Mia Gatow, erschienen am 18. September 2024 bei GOLDMANN, 304 Seiten ISBN: 978-3-442-31753-0

Transparenzhinweis: Das besprochene Buch habe ich gekauft. Die in dieser Rezension geäußerten Ansichten und Bewertungen spiegeln ausschließlich meine persönliche Meinung wider und wurden in keiner Weise von Verlag oder Autorin beeinflusst oder vorgegeben.

verlinkt zum Samstagsplausch von Andrea

Subscribe
Notify of
4 Comments
Inline Feedbacks
View all comments
Kiko
1 month ago

Vielen Dank für den Hinweis auf dieses Buch – ich werde es gleich bei einem Freund, der einen kleinen Buchladen hat, bestellen mit der Bitte, es auch in sein Sortiment aufzunehmen!
Ich habe mich schon so oft darüber aufgeregt, dass Alkohol in unserer Gesellschaft so normal ist und keiner die Probleme sehen will.
Auch wenn ich eigentlich etwas über Handarbeiten lesen wollte – das Thema des Buches ist wichtiger!
Danke!

Magda
1 month ago

Ein Buch, das ich gern manch einer Person schenken würde. Wie oft musste ich mir anhören, dass ein Glas schon ginge, auch wenn man fahren muss. (Ja, in meinem Umfeld sorgt auch dieses Argument für Diskussionen…)
Schwer ist auch dabei zuzugucken, wenn andere, die noch fahren, sich wortwörtlich volllaufen lassen. .
Vielleicht lasse ich es mal bei jemandem im Briefkasten 😊