Anfang und Ende

A GOAL WITHOUT A DAILY PLAN OF ACTION IS JUST A WISH, habe ich vor Jahren in großen Buchstaben auf einen Zettel geschrieben und diesen unter meine (durchsichtige) Schreibtischauflage geschoben. Damals schrieb ich an meiner Magisterarbeit, aber mit Familie, Haushalt und Nebenjob wollte das alles nicht werden. Ich brauchte ganz dringend einen Plan, wenn ich diese Arbeit jemals zu Ende führen wollte und nicht nur das – ich musste mich auch daran halten.

This is how you learn.

Der Zettel liegt bis heute unter meiner Schreibtischauflage und das muss er leider auch. Sonst klappt das immer noch nicht mit dem Plan. Auch wenn die Magisterarbeit längst abgegeben ist. Dinge, die ich vor mir herschiebe, gibt es noch genug.

A goal without a daily plan of action is just a wish. Passt irgendwie zu Anfang Januar. So von wegen Vorsätze und so.

Mein Ziel für 2021 ist es, mich mehr zu bewegen. Auch dafür brauche ich einen Plan, denn mit immermal um den Schreibtisch gehen, wird das nichts. Jetzt zählt also die Handy App meine Schritte – 10.000 sind das tägliche Ziel. Das klappte in der ersten Woche wunderbar. Laufen, bis ich aus der Puste war, dann gehen, bis es wieder ging. Dann wieder laufen. Kann man besser machen, weiß ich, aber es war ein Anfang, der sich ohne größeren Aufwand umsetzen ließ. (Von Stirnband und Sportklamotten bin ich noch weit entfernt 😉).

Der Zufall wollte es, dass ich mit Sophia drüber gesprochen habe und siehe da – Sophia hatte die perfekte App-Empfehlung für mich: Seither ist Laura von Couch to 5K  mein Guru. 30 Minuten sagt mir die Engländerin an jedem zweiten Tag, wann ich gehen und wann ich laufen soll. Sie ist unerbittlich, aber auch voll des Lobes, wenn ich durchhalte. Ihr Musikgeschmack ist leider nicht meiner, aber das verzeihe ich ihr bei jedem Stück, das zu meinem Laufrhythmus passt. Wenn ich wieder zu Hause ankomme, bin ich ausgepowert, aber zufrieden wie lange nicht. Laura sagt, in 9 Wochen laufe ich 30 Minuten ohne jede Anstrengung.

Ich wünsche mir, dass sie Recht hat.

Auf den letzten Metern meines Kolding haben mich Andrea, Magda (🐌) und Stefanie (🐌🐌) angefeuert – beste KAL-Gruppe ever! Und so konnte ich gestern tief zufrieden das Fädchen abschneiden.

Nach genau 40 Tagen sind 1.912 Meter schönster Regia Premium Silk in hellem Grau verarbeitet. Das größte Tuch, das ich je gestrickt habe. Noch ist es nicht gespannt, aber ich befürchte, allein wegen des Eigengewichtes wird es nochmal erheblich länger. Mal sehen. Ich werde berichten.

Das Maschenbild ist jetzt schon ziemlich schön. Allerdings haben diese unendlichen Maschen nicht durchgängig Spaß gemacht. Zwischendurch war ich ziemlich nah dran, dass Ganze zu ribbeln oder wenigstens wegzupacken. Aber auch da: Dank an die Gruppe! Wenn alle stricken, stricke ich auch. Und irgendwann danach wurde jede Reihe fast meditativ, mit jeder Masche der Kopf freier.

So, wie beim Laufen. Irgendwann entwickeln die Beine ein Eigenleben, losgelöst vom Kopf. Dann läuft es einfach.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Für meinen heutigen Post muss ich bißchen weiter ausholen: mit 18 waren meine Leistungskurse in der Schule Geschichte und Englisch. Danach habe ich Hotelfach gelernt, Veranstaltungen organisiert, war selbstständig, dann pleite, habe in Oregon gelebt, mich wieder berappelt, bin über Umwege in Berlin gelandet und habe hier viel Geld verdient.

Als ich schuldenfrei war, habe ich gekündigt, um mich – 18 Jahre nach dem Abitur – an der Humboldt Universität in Berlin einzuschreiben. Die Lieblingsfächer unverändert: Geschichte und Amerikanistik. Parallel zum Studium habe ich 20 Stunden in der Woche gearbeitet, bin einmal um- und dann mit dem Mann zusammengezogen, der Teenager kam auf die Welt. In dem Jahr, in dem er eingeschult wurde, habe ich meinen Magister gemacht. Mit einer Arbeit über Hillary Rodham Clinton.

Heute bin ich Historikerin und Feministin.

Rückblickend weiß ich nicht mehr, wie ich das alles unter einen Hut bekommen habe.  Es muss die Frage nach dem Verhältnis von Macht, Sex und Gender in amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewesen sein, die mich tatsächlich nie wieder losgelassen hat. („Cracking the highest, hardest glass ceiling“ übrigens auch nicht, aber das ist eine andere Geschichte).

Die Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012, dieses Gefühl nach der Wahl 2016 – es hat sich mir eingebrannt, das weiß ich jetzt wieder. Heute ist alles anders als vor vier Jahren und dabei genauso schlimm. Oder schlimmer?

Behauptungen ohne Belege, Schimpftiraden, Verschwörungstheorien, Verleumdungen, Lügen. Eine Strategie der verbrannten Erde, die auf fruchtbaren Boden zu fallen scheint.

Pennsylvania, Georgia, Arizona, Nevada. „Democracy is sometimes messy.“ Die Jahre vor Trump kommen nach Trump nicht wieder, heißt es. „America first.“ Was jetzt rot ist, wird dann blau. „Buy American.“

Aushalten kann ich es nicht, also verweigere ich Nachrichten und Internet. Gleichzeitig will ich alles wissen. Bis ins letzte Detail.

Es ist Geschichte und Englisch. Es ist nicht mein Land. Weiß der Himmel, warum mir das so nah geht.

In den letzten Tagen habe ich immer wieder gehäkelt. Kleine Quadrate aus kleinen Wollresten. Eins nach dem anderen. Vier Gramm sind genug für Jedes. Stäbchen sind meine Lieblingsmaschen. Wußte ich das vorher schon? Nichts macht mich so gelassen, wie wieder und wieder den Faden zu holen und ihn durch eine Schlinge zu ziehen. Ein Mantra, übersetzt in Wolle.

Dabei sollte es das Projekt eigentlich gar nicht geben. Spontan hatten Magda und Andrea mir vergangene Woche davon abgeraten, als ich ihnen die ersten beiden Quadrate gezeigt habe. Sie wären zu unruhig.

Meine Hände haben das offensichtlich nicht gehört. Nun sind es viele Quadrate und es werden immer mehr (so, wie die abgegebenen Stimmen für die Demokraten). Sie werden immer diverser (so, wie die demografische Entwicklung in den USA).

Mit Glück wird es eine Decke. Fertig wird sie wohl noch bevor dieses unwürdige Spektakel zu Ende ist.

 

3 Tage im Rheinland

Berlin ist eine wunderbare Stadt! Ich lebe hier gerne und das seit über 20 Jahren. Länger, als irgendwo sonst. Die Seen, der Himmel, dieses immer irgendwie Chaotische, die unterschiedlichen Kieze – ich glaube nicht, dass ich irgendwann nochmal hier weggehe.

Nun will es das Schicksal, dass der Mann seit mittlerweile vier Jahren in Bonn arbeitet. Anfangs wollten wir abwarten, wie sich das entwickelt, ob es Sinn macht hinterherzuziehen. Offensichtlich haben wir dann den richtigen Moment verpasst. Mein Job, die Schule, der Sportverein, das Haus … Sicher hätte man das alles aufgeben und im Rheinland neu anfangen können. Haben wir aber nicht. Nun ist der Teenager in der Oberstufe – da gehen wir hier bestimmt nicht weg. Nicht in den nächsten beiden Jahren.

Statt dessen WhatsApp und Facetime, Familienleben nur am Wochenende. Einer pendelt immer und im Normalfall ist das der Mann. Freitags nach Berlin, Sonntags zurück. Fast jedes Wochenende 12 Stunden in der Bahn. Vor Corona war das einfacher.

Zum Glück ist der Teenager (der natürlich seinen Vater liebt, aber wenig motiviert ist, am Wochenende nicht mit Ball in der Halle oder mit seinen Freunden zu sein) mittlerweile alt genug, dass man ihn auch mal alleine lassen kann. Das heißt, es spricht nichts dagegen, dass wir uns abwechseln der Mann und ich, dass ich jetzt häufiger mal nach Bonn fahre.

Vor zwei Wochen habe ich das gemacht.

Was soll ich sagen? Ja, Berlin ist eine tolle Stadt, aber mein Herz liebt das Rheinland. Da bin ich groß geworden. Da komme ich her. Der Dialekt, der Humor, das Klima – das gibt mir sofort ein Gefühl von Zuhause, was ich nirgendwo sonst habe.

Die drei Tage, die ich dort war, waren wie Ferien. Ferien an einem Ort, den ich früher so gut kannte, wie heute Berlin. Verrückt!

Wir sind spazieren gegangen. Einen Tag in der Rheinaue, einen Tag am Venusberg. Wir haben – wie schon in den 90ern – Kaffee getrunken auf der Terrasse des Extro und Abends ein Kölsch vor dem Lamme Goedzak . Auch das gab es schon vor 30 Jahren. Mindestens! Als ob jemand die Zeit zurückgedreht hätte. Oder angehalten.

Zwischendurch habe ich Mützen gestrickt. Zuerst die eine, die ich meinem kleinen Freund versprochen habe. Er geht auf seinen ersten Winter zu und da braucht er warme Ohren. Dann eine zweite, damit die Mutter entscheiden kann, welche ihm besser steht. Und weil ich mir nicht sicher war, ob die beiden Mützen nicht (noch) zu groß sind für das kleine Kind, habe ich noch eine kleinere gestrickt. Und schließlich eine größere für meine Frankfurter Freundin, die das Bild der ersten Mütze auf Instagram bewundert hatte. Vier Mützen aus Merino-Resten – je bunter, je besser. Drei habe ich mittlerweile verschenkt.

Dieses Wochenende ist der Mann wieder hier. Blätter harken steht auf dem Plan, spazieren gehen, Luft holen. Und (für mich) der karminrote Samstagsplausch.

Montag fängt die Schule wieder an.

Quarantäne

Mittwoch hat mich der  Teenager aus dem Unterricht angerufen. Gleich nachdem der Direktor sie informiert hat: Ein Freund und Klassenkamerad wurde positiv auf Covid-19 getestet. Der Freund, mit dem er Montag drei Freistunden verbracht hat … Also bin ich zur Schule gefahren, habe ihn aus dem Unterricht geholt (in mir ist Dwayne Johnson) und testen lassen.

Plötzlich ist alles ganz nah.

Donnerstag blieb er zu Hause und schlief sich aus. Teenager schlafen morgens gerne lange. Weiß ich, steht überall und doch … Ich fing an, Symptome zu vermuten. War das jetzt Teenager-typisches Verhalten oder Zeichen einer Infektion?

Donnerstagabend kam Entwarnung: Negativ!

Aber um einer Inkubationszeit von mindestens 5 Tagen gerecht zu werden, haben wir entschieden, er bleibt Freitag noch zu Hause. Wissend, dass er in die 11. Klasse geht. Dass jede Stunde zählt, dass Dienstag die erste Klausur geschrieben wird, dass … ach, was solls. Es gibt Wichtigeres.

Freitagmittag rief das Gesundheitsamt an. Der sehr freundliche Mann sagte, wir hätten den Test zu früh gemacht. Der Teenager sei Kontaktperson ersten Grades und deshalb müssen wir in Quarantäne bis zum 12. Oktober. Außerdem müsse der Test am kommenden Montag wiederholt werden. Ich bekam eine „Anordnung der häuslichen Isolation“ per eMail. Unter anderem mit der Maßgabe „zweimal täglich (mit einem Zeitabstand von mindestens sechs Stunden zwischen den Messungen) bei Ihrem Kind Fieber zu messen und Symptome, Temperatur sowie Aktivitäten zeitlich zu erfassen.“

Als der Sohn wenig später aufwachte, hatte er 37,7°. Keine Symptome. Keine Aktivitäten.

Den Nachmittag verbrachte er im Chat und an der PS4 mit dem infizierten Jungen und zwei anderen, die auf ihre Testergebnisse warten. Ich glaube, es hat ihm sogar gefallen. Nachmittags hatte er Fieber: 38,4°. Ab ins Bett!

Abends waren es 38,9° und meine Nerven dünn. Ich habe mich immer für pragmatisch gehalten. Bin ich es nicht?

Wenn ich krank bin – das kann ich. Wenn er krank ist – das kann ich nicht. Auch wenn er schon 16 ist. Nicht in sein Zimmer zu gehen und wenn doch, dann mit Maske. Ihn alleine essen zu lassen (ja, er ißt und der Geschmackssinn funktioniert. Kann ich irgendwann wieder normal denken?), ihn nicht umarmen zu können (zumindest nicht vor dem Ergebnis des zweiten Tests) – das ist so schwer. Weggehen, wenn ich hingehen möchte.

Heute morgen scheint das Fieber weg zu sein: 37,4°.

Wie immer das weiter geht. Es ist nur zur Sicherheit. Niemand weiß, ob er sich wirklich infiziert hat. Meine Nachbarinnen haben angeboten, für uns einkaufen zu gehen. Arbeiten kann ich von zu Hause. Draußen ist Sonne und wir haben einen Garten. Eigentlich ist alles gut. Eigentlich.

Montag kommt nach Samstag – das ist mein Mantra. Was immer jetzt kommt: es hat nach der Konfirmation begonnen. Dieses so schöne kleine Fest. 16 Menschen auf knapp 50qm. Bei offener Verandatür und offenem Fenster. Draußen 12 Grad und naß. Vielleicht haben wir uns ja einfach nur erkältet.

Meine Schwester hat mir kleine rosa Herzen gebacken.

Die esse ich jetzt. Wenn die Dose leer ist, ist der Spuk vorbei.

Geteilt in Andreas Samstagsplausch. (Stricken wir virtuell am Montag?)

 

Hochzeit in Binz

Das Standesamt in Binz auf Rügen hat eine Außenstelle direkt am Strand. Dort waren wir am vergangenen Freitag zu der standesamtlichen Trauung eines mit uns befreundeten Paares eingeladen. So schön, so unkonventionell, so besonders, dass mein Kopf – obwohl wir längst wieder in Berlin sind – gefühlt immer noch dort ist.

Der Müther-Turm wurde 1982 als Rettungsturm gebaut, ist ein Unikat und steht heute unter Denkmalschutz. Während draußen Badegäste vorbeizogen, Kinder im Sand spielten, Strandhasen herumliefen und Möwen auf Beute hofften, gaben sich drinnen zwei Menschen das Ja-Wort, die seit fast drei Jahrzehnten ein Paar sind.

So entspannt, so glücklich und so eins, dass man es auf jedem einzelnen Bild sieht, dass ich von den Beiden (und für die Beiden) gemacht habe.

Nach der Trauung gab’s für die 11-köpfige Hochzeitsgesellschaft die allerbesten Fischbrötchen und später für das Brautpaar Geschenke. Auf der Hochzeitstorte, die keine war, stand Shawn das Schaf, wir saßen in Strandkörben und das Wetter war so perfekt, wie es schöner nicht hätte sein können.

Die Braut trug weder weißes Kleid noch Schleier. Stattdessen ein großes, kobaltblaues Tuch, das ganz wunderbar im Wind flatterte. Der Bräutigam war (bald) ohne Jacke, dafür mit sonnengelbem Brautstrauß, einige der Gäste waren barfuß im Sand. Alle waren ein bißchen Hippies und anstelle von Blumen streuenden Kindern pusteten gestandene Herren Seifenblasen, dass es eine Freude war.

Das glückliche Paar, die grauen Haare der Gäste, das wehende blaue Tuch, der Himmel, das Meer, die vielen Seifenblasen – es war unglaublich, all das zu fotografieren. Unbeteiligte Strandspaziergänger blieben stehen, lachten und taten es mir nach. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Sollte ich meine Highlights in 2020 benennen, dieser Moment wäre unbedingt dabei. So viel Glück, so viel Leichtigkeit, so viel Freude. Was für ein Fest!

Später haben wir (der Mann und ich) sogar einen Wollladen entdeckt – Buttjers un Deerns. Ich glaube, ich habe jedes Knäuel in der Hand gehabt und mich gerne mit der sehr fröhlichen Inhaberin unterhalten, um dann aber  letztlich doch nichts zu kaufen. Erst war ich (zu) unentschlossen, dann fehlte die Zeit, um nochmal dorthin zurückzugehen. Deshalb kein Souvenir-Garn. Schade! Dieser Tag am Strand wäre es unbedingt wert gewesen, „verstrickt“ zu werden.

Ein Bobbel aus Mohair (und Seide?) in einer Regenbogen-Färbung hatte es mir angetan – wenn der Zufall es will, finde ich ihn sicher irgendwann wieder.

Gestrickt habe ich tatsächlich fast gar nicht. Und in den wenigen Reihen, die ich geschafft habe, habe ich prompt gepfuscht. Ich werde es nicht korrigieren. Egal, was der innere Monk sagt. Weil es fast unsichtbar ist und weil es eine Erinnerung ist, an diese Hochzeit. Nicht, weil ich gepfuscht habe, sondern weil jetzt zwei Zöpfe so nett nebeneinander sitzen, dass sie mich unweigerlich an das Brautpaar denken lassen.

Ach, es war schön. Richtig schön! Einem Samstagsplausch würdig 😉