Gregor

Der große Sohn hatte am Abend meine Telefonnummer am Zentralen Omnibusbahnhof hinterlassen, wo täglich volle Reisebusse und Privatwagen mit erschöpften Menschen aus der Ukraine eintreffen. Eine unglaublich gut organisierte Gruppe Freiwilliger hilft, diesen Menschen die Ankunft in Berlin ein bißchen leichter zu machen, indem sie ihnen zu essen geben, sie mit dem Nötigsten ausstatten und dann in Privathaushalte vermitteln.

Am nächsten Morgen kam ein Anruf, mit der Bitte, Yegor* aufzunehmen und ich sagte zu.

Yegor – das sei russisch für Gregor, meinte der junge Mann aus Kiew, als er ankam. Gregory auf englisch, aber Gregor wäre ihm lieber. Und dass er Student für angewandte Physik sei.

Eine der Freiwilligen hatte ihn hergebracht. Wenn alles okay wäre, würde sie gerne gleich wieder fahren. Es müßten noch so viele Menschen untergebracht werden. ‚Viel Glück‘ hat sie ihm noch gewünscht, dann war sie weg.

Gregor war nervös. Unsicher. So verständlich. Sein Vater war in der Ukraine geblieben. Der habe ein Haus, genug zu essen und ein Gewehr. Der käme schon klar. Nicht so seine Großmutter. Gregor hatte sie deshalb gleich zu Beginn des Krieges nach Polen zu Bekannten in Sicherheit gebracht. Würde er polnisch sprechen, wäre er geblieben, meinte er. So entschied er, weiterzureisen nach Berlin.

Er wollte mir erklären, warum er nicht zurück ging in die Ukraine. Musste er nicht, ich konnte es sehen. 21 Jahre alt und im dritten Semester an der Uni. Das Gefühl, dass das Leben gerade erst anfängt und jetzt Krieg. Er liebe sein Land, sagte er, sei sich aber nicht sicher, ob er schon bereit sei zu sterben.

Wie würden unsere Jungs entscheiden? Mir wird anders, wenn ich daran denke.

Nachmittags kam der Teenager nach Hause und brachte zwei Freunde mit. Der eine Italiener, der andere ein Serbe. Dennoch beide Berliner. Ein Zufall, denn normalerweise wäre Training gewesen. Gestern nicht. Also spielten sie Basketball in der Einfahrt – mit Gregor (der erstaunlich gut zu können schien). Später haben sie dann zu viert am Tisch gesessen, Spaghetti Bolognese gegessen, gelacht und geredet. Deutsch und englisch durcheinander.

Über die ukrainischen Farben, den Preis für einen guten Döner und deutsche Fahnen in Vorgärten. Über korrupte Politiker und diesen ukrainischen Fußballspieler, der supertalentiert sei, aber leider dumm. Über das Geräusch von Bomben, die Klitschko-Brüder und Polarkoordinaten. Sie haben die Sprachen gezählt, die jeder von ihnen spricht (zusammen: 8) und eine unbeschreibliche Menge an Nudeln in sich rein geschaufelt.

Ein Italiener, ein Serbe, ein Ukrainer und ein Deutscher. Berliner Alltag. Alles wie immer also und irgendwie gar nicht.

Abends kam der große Sohn ein Päckchen abholen (auch das ein Zufall. Gibt es Zufälle?), das ich an dem Tag für ihn angenommen hatte. Auch er unterhielt sich gerne und lange mit Gregor. Wie schwer es sein kann, als Neuankömmling in Berlin Fuß zu fassen, wie mühsam die Wohnungssuche ist (er sucht jetzt seit zwei Jahren!) und wie cool der Frühling. Wie hart es sein muß, mit 21 sein Land verteidigen zu müssen. Wie nachvollziehbar zu fliehen, mit nichts als einem kleinen Rucksack.

Um elf waren dann alle irgendwo in Betten oder auf Matratzen. Ruhe im Haus – nicht in meinem Kopf.

Heute morgen kam Gregor erst spät in die Küche. Dafür im Anorak und mit Rucksack. Nein danke, kein Frühstück. Er habe Essen dabei gehabt und gegessen. Jetzt wolle er weiter. Nach Kaiserslautern, da habe seine Mutter Freunde, die ihn erwarten würden.

Vorher würde er allerdings gerne in das Berliner Ankunftszentrum in Reinickendorf. Er hätte viele Fragen und das dringende Bedürfnis mit anderen Ukrainern zu sprechen, deshalb könne er leider nicht bleiben.

Er ging noch mit in ein Testzentrum, um (negativ getestet, geimpft ist er nicht) mit den Öffentlichen fahren zu können. Ich habe ihm die Corona App erklärt, die U-Bahn und ihm  FFP2-Masken gegeben. Er weiß jetzt, dass er überall in Deutschland unglaublicher Bürokratie begegnen wird und deshalb bitte nichts vorschnell unterschreibt. Lieber erstmal schicken, dann gucken wir zusammen. Das war’s.

Dann fuhr er weg.

Eben kam Nachricht von ihm. „Yet everything is good“. Ob er jemals in Kaiserslautern ankommen wird?

Ich denke, ich lasse sein Bett erstmal bezogen.

*Der Name ist geändert und auch der Tag, an dem er bei uns war. Alles andere ist so, wie es war.

Gestrickt habe ich kaum in der vergangenen Woche; dennoch geht dieser Post zu Andrea

3 Minuten: wenn das Bündchen nach oben klappt

3 Minuten – mehr braucht es in der Regel nicht, um nachzulesen was mir gerade nicht einfällt. Eine bestimmte Technik, ein Kniff, eine Eselsbrücke, eben das, was mir in genau diesem Moment beim Stricken oder Häkeln weiterhelfen würde.

Aber wo habe ich es hingeschrieben? War es online oder auf einem Zettel? Meistens dauert die Suche danach viel länger als von mir gewollt (auf jeden Fall deutlich länger als drei Minuten …) und deshalb sammel ich es hier. Um mir (und vielleicht auch Euch) das Leben Stricken leichter zu machen.

Der Pullover ist fertig, der Faden abgeschnitten und dann klappt das Bündchen nach oben … So ärgerlich, aber passiert ist es wohl den meisten von uns schon mal. Mir auch in der vergangenen Woche und deshalb habe ich die Weiten des Internet durchforstet, um herauszufinden, wie sich dieses Hochklappen verhindern lässt.

Siehe da – Möglichkeiten gibt es viele! Eine so einfach wie die andere. (Einziger Wermutstropfen: ich musste zuerst das bereits gestrickte Bündchen wieder ribbeln).

Variante 1: Strick das Bündchen mit dünneren Nadeln.

Durch den Wechsel von rechten und linken Maschen im Bündchen (oder beim Stricken von ausschließlich linken Maschen) ändert sich die Fadenspannung. Der Faden ist wechselnd vor und hinter der Nadel, dadurch verbrauchst du minimal mehr Garn, als bei glatt rechts Gestricktem. In Konsequenz dehnen sich die Maschen ein winziges bißchen mehr und das reicht, um das Bündchen nach oben klappen zu lassen. Dünnere Nadeln können das verhindern.

Variante 2: Maschen ab- oder zunehmen

Nimm in der letzten glatt rechts gestrickten Reihe, also ehe das Bündchen beginnt, einige Maschen ab (wenn Du top-down strickst) oder in der ersten Reihe nach dem Bündchen einige Maschen zu (wenn Du von unten nach oben strickst). Je nach Garnstärke vielleicht jede 9. und 10. Masche. Das liest sich nach viel, ist es aber nicht. Der Effekt ist der Gleiche wie in der ersten Variante: weniger Garn, andere Spannung = kein Hochklappen mehr.

Variante 3: Maschen abheben und nicht stricken

Strick die rechten Maschen der obersten Bündchenreihe (also der Reihe, die an das glatt rechts Gestrickte stößt) nicht, sondern heb sie ab wie zum Linksstricken, mit dem Faden hinter der Nadel. Für ein Bündchenmuster, bei dem sich jeweils eine rechte und eine linke Masche abwechseln, heißt das: 1M abheben, 1M links, 1M abheben, 1M links … Dass dadurch weniger Garn verbraucht wird, ist logisch. Gleichzeitig verringert sich dadurch auch der „Buckel“ der gerne mal beim Übergang von glatt Gestricktem zum Rippenmuster entsteht. Letzteres steht dann tatsächlich weniger vor.

Wenn das alles nicht hilft, wenn sich Dein Bündchen immer noch nicht fügen will und unverändert nach oben klappt, bleibt dämpfen und spannen. Oder Du strickst ein längeres Bündchen, das durch sein Eigengewicht nach unten hängt.

Bei meinem Solvi Sweater habe ich im Zweitversuch die Varianten 1 und 3 kombiniert. Also dünnere Nadeln (3.25 statt 3.5) und abgehobene Maschen. Außerdem ist das fertige Bündchen jetzt drei Reihen länger.

Als wäre das nicht genug, habe ich dann, Andrea’s Empfehlung folgend, die letzte Reihe mit doppeltem Faden gestrickt – das Tüpfelchen auf dem i sozusagen.

Und siehe da: Noch ist der schöne Pullover zwar nicht ganz fertig, geschweige denn gewaschen (deshalb ist das Maschenbild auch noch so unruhig), aber das Bündchen sitzt einwandfrei 💪🏼.

Schwarze Gedanken

Tag 3 des russischen Krieges in der Ukraine. Krieg in Europa und mein Kopf voller schwarzer Gedanken.

„Russischer Großangriff auf Kiew“, „Angriffskrieg“, „Präzisionswaffen großer Reichweite“, „Luftalarm“, „Kampfhandlungen“, „Panzer“, „Bunker“, „Entnazifizierung“ – entsetzliche Begriffe. Keinen davon will ich lesen. Sie gehören nicht nach Europa, nicht in dieses Jahrhundert!

Mein Feed in den sozialen Medien blau-gelb, überall Betroffenheit, Fassungslosigkeit, aber auch Solidarität und bei allem das Gefühl, dass sich dieser Krieg nicht alleine gegen die Ukraine richtet. Es geht gegen westliche Demokratien und damit auch gegen uns.

Mali, Syrien, der Jemen, Afghanistan. Mindestens eines dieser Länder ist seit Jahren jeden Abend in den Nachrichten und doch so weit weg. Habe ich deshalb irgendwann nicht mehr richtig zugehört? Nicht mehr hingesehen?

Kiew – Berlin sind zwei Flugstunden.

Europa, ein Ort des Friedens. Das habe ich wirklich geglaubt. Dabei gab es seit Wochen Analysen, Satellitenfotos und öffentliche Erklärungen, die dagegen sprachen.

Für heute hatte ich einen anderen Blogpost geschrieben. Hell und fröhlich, über den Geburtstag des Mannes. Ihn zu veröffentlichen wäre ein Klick. Und doch kann ich es nicht. Nicht heute.

Stattdessen Bilder des schönen Isabel’s Infinity Loop, so schwarz wie meine Gedanken.

„Ein völlig ungerechtfertigter Angriff auf ein friedliches Land“ hat Melinda Simmons getwittert, die britische Botschafterin in der Ukraine.

Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen.

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ sagte Annalena Baerbock. Stimmt nicht. Grausame Kriege gibt es leider immer und überall. Dieser hier ist nur näher an uns dran.  Und deshalb definitiv eine Zeitenwende in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Offensichtlich denken wir ähnlich, Andrea.

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Zartes Grün

Draußen ist Sonne. Ich bin überrascht, wie viele Pflanzen schon austreiben. Zartes Grün, nach dem es noch vergangene Woche überhaupt nicht aussah. Jetzt, wenige Tage später, sind sogar die Vögel wieder laut. Hier! In der kalten, grauen Hauptstadt.

Was war denn das für eine Woche?!

Nicht nur im Garten, auch im Leben: da hat sich (erwartet unerwartet) Einiges bewegt, aus dem jetzt Neues erwachsen wird.

Schreiben kann ich darüber nicht. Noch nicht. Weil es noch nicht zu Ende ist. Aber es sieht so aus, als würde es gut.

Heute deshalb nur schöne Pulswärmer aus Sockenwolle mit Seidenanteil und keine lange Geschichte. Stattdessen werde ich raus gehen. Sonne und zartes Grün genießen, bißchen aufräumen.

Ist doch verrückt, wie aus meinem nackten Garten jedes Jahr wieder ein Dschungel wird. Und immer beginnt es mit diesem zarten Grün.

Wie im richtigen Leben.

Verlinkt zu Andreas Samstagsplausch, dem siebten in 2022. Time flies!

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Solvi Sweater

“When people see me knitting, I tell them I’m a knitter. Not the sort of knitter they may have run into before, but a passionate, constant, deliberate knitter. I knit everyday, all the time, everywhere I go.” Das sagt Stephanie Pearl McPhee, Autorin, Bloggerin, @YarnHarlot auf Instagram, Großmutter von Elliott, Strickerin (natürlich) und unfassbar begabt, wenn es darum geht, Worte und Wolle in etwas ganz Wunderbares zu verwandeln.

Sie strickt immer und überall. Ich schreibe das nicht ohne Neid.

Vermittelt es doch ein Maß an Selbstbewußtsein, dass ich nicht (immer) habe. Wie oft habe ich deshalb schon in der U-Bahn gesessen, im Wartezimmer oder irgendwo draußen … mit Strickprojekt in der Tasche. Und da blieb es auch. Weil ich keine Lust hatte auf Blicke oder Kommentare.

Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass das Stricken, die Beschäftigung mit Wolle, Anleitungen, Maschen, Mustern und Farben das Beste ist, was meinem Verstand passieren konnte. Ich habe nur nicht immer Lust, das zu erklären.

Stattdessen erwische ich mich im Verteidigungsmodus, wenn mir (mal wieder) jemand erzählt, dass die Oma auch gestrickt hat, wenn ich gefragt werde, ob ich auch „was Richtiges“ mache oder wenn ich das Gefühl habe, anders behandelt zu werden, weil ich Nadeln in der Hand halte (nicht zwingend besser).

Zur Zeit ist der umwerfend schöne Solvi Sweater mein Lieblingsprojekt. Er wird so schön, dass ich die Passe langsamer gestrickt habe, als nötig gewesen wäre. Einfach, um länger etwas davon zu haben.

Das Garn ist Kauni, Wolle aus Estland. Einmal bunt, einmal grau. Wie im richtigen Leben. Den Regenbogen hat mir Juliane im März 2017 geschenkt; das Grau habe ich im Januar 2018 in Schweden dazu gekauft. Alles gut abgelegen also.

Kauni ist bißchen rauh, bißchen fettig und riecht nach Schaf; 150 gr. haben eine Lauflänge von 600 Metern. Es ist Wolle, die (wie so viele andere) meine Lieblingswolle werden könnte. Zu sehen, wie ein Pullover daraus wächst, macht mich glücklich. So glücklich, dass ich tatsächlich auch in der Öffentlichkeit daran stricke. Ich habe eine Mission. Ich bin entschlossen, Farbe in die Berliner U-Bahn zu bringen. Farbe und gute Laune 😉. Wer Berlin kennt, weiß, dass das nicht immer einfach ist.

„Knitters use knitting to value-add to the world,“ ist übrigens auch von Stephanie Pearl McPhee.

So isses.

Die Anleitung zum Solvi Sweater ist von Jennifer Steingass (@knit.love.wool auf Instagram); dazu inspiriert hat mich Andrea mit ihrem Gardengate Sweater.

Die geniale Idee, mit einem provisorischen Maschenanschlag zu beginnen, um den Kragen erst zum Schluß zu stricken und damit sicher sein zu können, dass er sitzt, wie er sitzen soll, verdanke ich Sophia.